Befreiung ist nicht verhandelbar

Kritik der „Revolutionären Realpolitik“, Teil 1

von Alan Schwarz (In: TIERBEFREIUNG 110, März 2021)

Die sich formende Strömung der tierbefreiungsbezogenen „Revolutionären Realpolitik“ (RR) lädt mit ihrer Positionierung in der TIERBEFREIUNG 109 zum Bewegungsdiskurs ein. Sich historische Beispiele zum Vorbild nehmend ist ihr Ansinnen, so erscheint es, die Erweiterung des Strategieportfolios der Tierbefreiungsbewegung, um das Werkzeug der Reformen. Ein schmutzig klingendes Wort, welches bislang vornehmlich der Tierschutz, zuweilen mal das Tierrecht in Anspruch nahm. Nun schlagen Friedrich Kirsch et al. aber vor, tierbefreierischen Zielen ebenfalls mit diesem Mittel näher kommen zu können. Diesen Gedanken möchte ich hier sowohl historisch wie auch theoretisch und pragmatisch kritisch betrachten.

Ihre Desillusionierung über die Russische Revolution[2] zum Ausdruck bringend, mahnt uns die anarchafeministische Revolutionärin Emma Goldman:

„Es gibt keinen größeren Trugschluss als den Glauben, dass Ziele und Zwecke eine Sache sind, während Methoden und Taktiken eine andere sind. Diese Auffassung ist eine mächtige Bedrohung für die soziale Regeneration. Alle menschlichen Erfahrungen lehren, dass Methoden und Mittel nicht vom ultimativen Ziel getrennt werden können. Die eingesetzten Mittel werden, durch individuelle Gewohnheit und soziale Praxis, zum Bestandteil des eigentlichen Zwecks; sie beeinflussen es, modifizieren es und bald werden die Ziele und Mittel identisch. Vom Tag meiner Ankunft in Russland an fühlte ich es — zuerst vage, dann immer bewusster und klarer. Die großen und inspirierenden Ziele der Revolution wurden durch die Methoden der herrschenden politischen Macht so getrübt und verdeckt, dass es schwierig war zu unterscheiden, was vorübergehendes Mittel und was langfristiger Zweck. Psychologisch und sozial beeinflussen und verändern die Mittel notwendigerweise die Ziele. Die gesamte Geschichte des Menschen ist ein ständiger Beweis für die Maxime, dass die Veräußerung der Methoden ethischer Konzepte bedeutet, in die Tiefen völliger Demoralisierung zu versinken. Darin liegt die wahre Tragödie der bolschewistischen Philosophie in Bezug auf die russische Revolution. Möge diese Lektion nicht vergebens sein. Keine Revolution kann jemals als Befreiungsfaktor erfolgreich sein, wenn nicht die Mittel, mit denen sie gefördert wurde, in Geist und Tendenz mit den zu erreichenden Zwecken identisch sind.“[1]

Keinesfalls soll uns eine hundert Jahre alte Mahnung a priori zu dogmatischer Ablehnung vorgebrachter Ideen veranlassen. Und schon gar nicht sollten wir ihr Bedeutung abhängig von ihrer Urheberin beimessen. Doch zeigt sie auf, dass die Abwägung der Kompromittierung der Mittel (oder: das Narrativ der „Realpolitik“) im Großen und Kleinen kein neues Phänomen ist. Ist das Zitat aber aus dem Kontext gerissen? Ein bloßer Aufhänger, der dem nachfolgenden Argument pathetischen oder akademisch-wirkenden Flair geben soll? Gar ein stilistisches Mittel die Zitation der Rosa Luxemburg zu spiegeln? Was soll bitte die Oktoberrevolution (denn darüber spricht Goldman eigentlich) mit den Tierbewegungen, speziell der Tierbefreiungsbewegung, zu tun haben?

Der Bezug liegt in der Begründung dieser Mahnung, die die Schatten der Revolution erlebende Goldman gibt. Denn der Grund für das abgrundtiefe Versagen der sozialen Revolution läge nicht etwa darin begründet, die materiellen Bedingungen im vorrevolutionären Russland hätten nicht alle Checkboxen des Marxschen Wunschzettels erfüllt. Oder gar, dass der Bolschewismus[2] eine falsche Interpretation des Marxismus sei. Vielmehr hätte sie daher scheitern müssen, so Goldmann, da der Marxismus in sich selbst ironischerweise „mit der Revolution inkompatibel“ sei. Konkreter:

„Die staatliche Idee, das autoritäre Prinzip, wurde durch die Erfahrung der Russischen Revolution als bankrott erwiesen. Wenn ich mein gesamtes Argument in einem Satz zusammenfassen würde, würde ich sagen: Die inhärente Tendenz des Staates besteht darin, alle sozialen Aktivitäten zu konzentrieren, einzugrenzen und zu monopolisieren; die Natur der Revolution besteht im Gegenteil darin, zu wachsen, sich zu erweitern und sich in immer größeren Kreisen zu verbreiten. Mit anderen Worten, der Staat ist institutionell und statisch; Revolution ist fließend, dynamisch. Diese beiden Tendenzen sind unvereinbar und zerstören sich gegenseitig. Die Staatsidee hat die Russische Revolution getötet und muss bei allen anderen Revolutionen das gleiche Ergebnis haben, es sei denn, die libertäre Idee hat Vorrang.“[1]

Das Problem ist also der Versuch an sich, eine revolutionäre Bestrebung mit den Mitteln des Staates – mit denjenigen Mitteln also, die das Unterfangen einer Revolution überhaupt erst erfordern – ebendiese herbeiführen zu wollen. Die Einlassung auf die Spielregeln der staatlichen Gesellschaftsordnung folgt im Zuge der Russischen Revolution gerade zu ihrer Reproduktion: „Lenin nimmt den Sitz der Romanows ein, das kaiserliche Kabinett wird in Sowjet der Volkskommissare umbenannt, Trotzki wird zum Kriegsminister ernannt und ein*e Arbeiter*in wird Generalgouverneur*in von Moskau“.[ebd] Genau hieraus leitet sich die einleitende Schlussfolgerung ab, Ziele und Zwecke nicht von Methoden und Taktiken losgelöst behandeln zu können. Wir können es uns nicht leisten, in den verlockenden Klang des „Nach Der Revolution“ zu verfallen, der von uns abfordert ’mal kurz beide Augen zuzukneifen, um durch diesen schwierigen Prozess der Befreiung zu kommen, damit wir sie dann später zu einer Utopie Kiewertschen Ausmaßes wieder öffnen.

Bringen Reformen die Tierbefreiung voran?

Wird es aber der „Revolutionären Realpolitik“ gerecht, ihre Bestrebungen alleine in Bezug auf die unausweichliche Einbeziehung staatlicher Kollaboration auszuwerten? Zum Teil: Denn die mit ihrem Vortrag verknüpfte Argumentation für Reformen erfordert unweigerlich die Anerkennung oder zumindest Duldung des staatlichen Gewaltmonopols. Die Umsetzung der Reform erfordert also unausweichlich Appelle an den Staat. Sofort wird klar, dass, soll ein solcher Appell effektiv sein, ihm eine radikale Kritik am Nationalstaat zuwider laufen muss. Der selbstformulierte Anspruch der „RR“ Reformen unterstützen zu wollen, ohne dabei den revolutionären Charakter der Tierbefreiung aufzugeben, erweist sich allein aus diesem Grund als widersprüchlich.

Entgegen der Luxemburgschen Argumentation, wiedergegeben von Michael Kohler[3], sind die beiden Optionen „[die] politische Macht [zu erobern]“ und „den gesetzlichen Reformweg“ zu wählen nicht die einzig verfügbaren. Im Gegenteil, wie die Erzählungen nicht nur der Goldman zeigen, führt die Eroberung politischer Macht eben zu einer re-Evolution (im Gegensatz zu einer Revolution) eben dieser Macht. Ob Französische-, März-, Februar- oder Oktoberrevolution, das Greifen nach politischer Macht durch die „Revolutionäre“ hat im Nachhinein stets das gleiche Ergebnis; Wie oft sollen wir das denn bitte noch versuchen? Im Gegensatz hierzu, und im Gegensatz zum „gesetzlichen Reformweg,“ ist das Ziel der Zerschlagung politischer Macht nicht korrumpierbar — zumindest gibt es hierzu keine historischen Anhaltspunkte.

Doch selbst wenn wir, allen Warnungen zum Trotz, dem Irrtum erliegen würden, die Bekämpfung der politischen Macht im Gewaltmonopol des Staates hätte keine unmittelbare Beziehung zur Befreiung (nichtmenschlicher) Tiere, erscheinen die Vorschläge und Kriterien „radikaler Reformen“ ungeeignet. Als Beispiel für eine zumindest proto-revolutionäre Reform wird in [3] das Kastenstandverbot vorgebracht; Durch einen Schulterschluss mit der Tierschutzbewegung (!) hätte, so Friedrich, die Tierbefreiungsbewegung daran mitwirken sollen die Legalisierung dieser abzuwenden. Hierdurch würde erzielt, dass die betroffenen Schweine jenen Kästenständen nicht mehr ausgesetzt wären und dadurch, dass die „Schweineindustrie [sic] eine empfindliche Niederlage kassiert hätte“ wäre „unsere Ausgangslage“, also die Ausgangslage der Tierbefreiungsbewegung, verbessert worden. Wie?!

Es steht für mich außer Frage, dass – alle anderen Faktoren dieselben bleibend – diejenige Situation, in welcher die betroffenen Schweine nicht in Kastenständen sind, besser ist, als die, in der sie in diese grässliche Apparatur gezwängt werden. Das dürfte auch nicht kontrovers sein. Doch es ist eindeutig ein Tierschutzziel. Das macht es nicht automatisch schlecht, aber es hat null Auswirkungen auf den Stand der Tierbefreiungsbewegung. Es brächte auch nicht die „Abschaffung jeglicher Schweineausbeutung“ näher. Wie auch? Die Produktion von möglichst billigem massenkonsumierbaren „Fleisch“ bleibt gesellschaftlich ja nach wie vor weiterhin fest verankert und genauso unumstritten wie zuvor. Wenn überhaupt wurde die Legitimität dieser Ausbeutung fester zementiert, indem eine neue Reglementierung geschaffen wurde. Es würde doch niemanden verwundern, würden nach dem Inkrafttreten des Verbots Konzerne mit lustigen Stickern für das vermeintlich erhöhte „Tierwohl“ werben – hierfür existieren ja bereits unzählige Beispiele.

Die Beteuerung der Vertreter*innen der „RR“ eine Reform finden zu können, die (zumindest) den abolitionistischen Bestrebungen der Tierbefreiungsbewegung nicht entgegensteht, erweist sich daher als Quadratur des Kreises. In dem Sinne, dass sie mit herkömmlichen Mitteln – und ohne den Sinn des Wortes „Reform“ vollständig umzukehren – nicht möglich ist. Eine Reform im klassischen Sinn erfordert eine Zustimmung des herrschenden Zeitgeistes. Dieser beinhaltet unumstößlich, dass Tiere generell ausgebeutet werden dürfen, wenn es „berechtigte“ Interessen hierzu gibt. Und ganz besonders steht ihrer Ausbeutung nichts im Wege, wenn sie keine menschlichen Tiere sind. Jede Reform muss sich unweigerlich in diese Maxime einordnen. Bestenfalls eine Reform, die ein kategorisches Verbot der Benutzung und Ausbeutung nichtmenschlicher Tiere bedeutete würde – vielleicht – dem Anspruch einer revolutionären Reform gerecht; doch liefe sie erstens jener Maxime diametral entgegen oder zweitens würde sie eine breite gesellschaftliche Unterstützung abolitionistischer Positionen vorausbedingen. Eine Vorbedingung deren gegenwärtige Erfüllung die „RR“-Befürwortenden selbst (und richtigerweise) in Abrede stellen.

Einordnung „Revolutionärer Realpolitik“

Es wäre in der Tat eine Errungenschaft, würde die Tierbefreiung in der Lage sein das niedrig hängende Instrument der Reformen zu schwingen. Zumindest wäre es zur Abwechslung mal ein repressionsarmes Werkzeug in unserem Werkzeugkasten. Aus den bislang von der „RR“ vorgebrachten Argumentationen erscheint es aber unschlüssig, a) wie überhaupt eine glaubwürdige „radikale Reform“ aussähe und b) wie sie die Tierbefreiung voranbringen kann. Ich kann zu keinem anderen Schluss gelangen, als dass die „radikale Reform“ nicht, wie behauptet, nur ein scheinbares sondern ein tatsächliches Oxymoron ist.

In Analogie zum „Neuen Tierschutz“ ließe sich die Philosophie hinter der „Revolutionären Realpolitik“ am ehesten als „Neue Tierrechte“ klassifizieren. Nun muss hierzu festgehalten werden, dass es – genauso wenig wie es kategorisch falsch ist Tierschutzaktivismus zu betreiben – nicht kategorisch falsch ist Tierrechtsaktivismus zu betreiben. Beide sind jedoch wie aus den Archiven jahrzehntelanger Diskurse, Theorie und Praxis immer wieder hervorgeht, sowohl ideologisch wie auch funktional der Befreiung aller Tiere aus Ausbeutungsverhältnissen bestenfalls unzuträglich und schlimmstenfalls aktiv entgegenstehend.

Werfen nun also langjährige Denker*innen und Aktivist*innen der Bewegung ihre Augen wohlwollend auf jene Strömung, entsteht bei mir die Sorge, dass hart erkämpfte Tierbefreiungspositionen und Abgrenzungen zu – nun ja – zu reformistischen Strömungen aufgeweicht werden werden.

In Teil 2 schlage ich eine alternative Interpretation und einen Ausblick für eine Revolutionäre Realpolitik vor.

 

[1] My Disillusionment in Russia, 1923-1925, Emma Goldman. ISBN 978-1-909798-41-0 (Diverse Ausgaben in Onlinebibliotheken frei verfügbar)
[2] Die korrumpierte Revolution, 2020, Frank Jacob. ISBN 978-3-96317-200-7 (Printausgabe), ISBN 78-3-96317-723-1 (ePDF). Erhältlich im Open Access (CC BY-NC 4.0)
[3] TIERBEFREIUNG Ausgabe 109, Seiten 66-74. https://www.tierbefreiung.de/tierbefreiung-109

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