Der Versuch einer radikalen Interpretation revolutionärer Realpolitik

Kritik der „Revolutionären Realpolitik“, Teil 2

von Alan Schwarz (In: TIERBEFREIUNG 110, März 2021)

In Teil 1 meines Beitrags hat eine Diskussion stattgefunden, warum einige Ansätze der RR nicht zielführend sind und warum sie meiner Ansicht zufolge in der Form schlicht nicht umsetzbar sind. Unabhängig davon ist aber die strategische Frage, die der Vorstoß, zumindest bei mir, aufgeworfen (oder zumindest daran erinnert) hat, eine wichtige. Sie verdient daher eine konstruktive Antwort, die ich hiermit geben möchte. Hierzu will ich zunächst versuchen, die aus meiner Sicht wichtige Wurzel auszugraben, zu analysieren und die sich daraus ergebenden (strategischen und ideologischen) Konsequenzen weiterzudenken. Dieser Text soll dabei offensichtlich einen Diskussionsbeitrag darstellen und mögliche Perspektiven skizzenhaft erkunden. Keinesfalls stellt dies das definitive Ende des Themas dar und ich würde begrüßen, wenn hier weitere Unterhaltungen dazu geführt würden.

Destillieren wir einmal die Vorschläge der RR herunter und sehen über die in Teil 1 von mir kritisierten Schwierigkeiten hinweg. Dann bleibt ein Kern übrig, der das Potenzial hat „der Bewegung“ einen scharfen und wichtigen Fokus zu geben. Dieser Kern ist die folgende Realisierung und die sich daraus ableitende Fragestellung: Die Tierbefreiungsposition ist keine Theorie bzw. Ideologie, die aktuell relevante gesellschaftliche Verbreitung findet. (Wie) Können wir eine Situation erreichen, in der die breite Gesellschaft für diese Position empfänglich wird? — dies wurde in der Vergangenheit auch bezeichnet als „Schaffung einer besseren Ausgangssituation für die Bewegung, da Befreiung derzeit nicht in der Luft liegt“.

Wie bereits dargelegt, halte ich den Versuch dies über staatlich gestützte Reformen zu erzielen aus mehreren Gründen für unmöglich. Stattdessen hilft es, die oben beschriebene Problemstellung und die gleichzeitig vorgeschlagenen Lösungsvorschläge (z.B. Reformen) zunächst voneinander zu trennen. Meine bisherige Kritik (siehe Teil 1) bezieht sich nämlich vordergründig auf die Eignung jener Lösungsansätze. Aber die von Friedrich Kirsch vorgeschlagenen muss– und darf nicht-Kriterien sind ein guter erster Entwurf für eine Messlatte um Strategien (– nicht Reformen –) zu bewerten, mit denen eine wie auch immer geartete Ausrollung einer RR umgesetzt werden soll: Um in die Gussform der RR zu fallen, muss ein Vorschlag an reale Umstände anknüpfen, machbar sein und die Ausgangslage der Tierbefreiung verbessern, während er gleichzeitig die gesellschaftliche Akzeptanz von Tierausbeutung nicht verstärken und zur Reproduktion des Kapitalismus nicht beitragen darf. Die soll– und soll nicht-Kriterien spare ich hier analytisch aus, da sie zum Teil redundant, zu schwach oder zu sehr auf die intendierte Reformen-Lösung zugeschnitten sind.

Die richtige Frage stellen

Vor dem Formulieren realpolitischer Strategien im Sinne der RR ist die wichtige Frage aber: Warum liegt Befreiung derzeit nicht in der Luft?“ Erstmal dürfte klar sein, dass die Beendigung ausbeuterischer Verhältnisse, insbesondere nichtmenschlicher Tiere, aber auch diejenige von Menschen, kein isoliert betrachtbares Problem ist. Ausbeutungsideologie wird vom Gesamtsystem, welches über unsere Gesellschaft gestülpt ist, getragen. Dieses muss zur Selbsterhaltung der Ausbeutung genau betrachtet aber eine Menge leisten, denn es muss den Großteil der Menschen davon überzeugen, an einem Werte- und Wirtschaftssystem festzuhalten, das ihnen selbst und ihrer Umwelt aktiv schadet. Es muss nicht zuletzt auch Menschen von ihrer eigenen Empathie entfremden.

Wenn also Menschen für revolutionäre Ideen nicht zugänglich sind, ist das auf genau jenes selbsterhaltende Wertesystem zurückzuführen. Denn dann haben sie aufgrund ihrer Umgebung und Sozialisierung Bewertungsmaßstäbe für ideologische Vorschläge erlernt und internalisiert. Das haben wir in bestimmtem Rahmen zwar alle, doch was reaktionäre Positionen besonders auszeichnet, ist, dass sie einer objektiven Selbstüberprüfung des Wertesystems und der sich daraus ergebenden Konsequenzen nicht bzw. weniger offen gegenüberstehen. Zumindest ist dies die These, die ich im Weiteren annehme.

Objektiv betrachtet ist doch eine befreite Gesellschaft – also eine, die nicht auf Ausbeutung, Konkurrenz, Kapitalismus etc. beruht – für eigentlich alle Beteiligten eine bessere. Eben nicht nur für die aktuell am schlimmsten Ausgebeuteten. Es scheint unter dieser Prämisse fast unbegreiflich, wie irgendwer dagegen sein kann. Es wird begreiflicher, wenn wir uns aber vor Augen führen, dass traditionalisierte Prägung eben eine Evaluation solcher Vorschläge schon a priori kategorisch ausschließt – beispielsweise durch Bezug auf Patriotismus, vermeintliche ethnische Überlegenheit, Religion etc. In diesem Narrativ ist, zum Beispiel, Patriotismus nicht „richtig weil Grund“, sondern „richtig Punkt“. Herrschaftsverhältnisse über andere Tierspezies sind ebenfalls entweder „richtig Punkt“ oder vielleicht noch „richtig weil Gott“ und dann ist „Gott richtig Punkt“. Und so weiter: Die Ablehnung wird generiert aus einer vorweggenommenen Unhinterfragbarkeit konstruierter Begrifflichkeiten.

Und die Antwort auf die Frage?

Es scheint mir angemessen, es als „Revolutionäre Realpolitik“ zu bezeichnen, wenn es gelänge eine Strategie zu entwickeln, die genau diesen Prozess durchbricht oder aushebelt. Im Gegensatz zur Flickschusterei in der Krone des Baumes herumzuschnippeln würde dies an die Wurzel der gesellschaftsübergreifenden Ideologie gehen. Gleichzeitig ist dieser Durchbruch nicht binär: Es ist kein alles oder nichts, es kann inkrementell stattfinden und das Fundament der reaktionären Weltordnung erodieren.

In diesem Rahmen kann so eine Strategie natürlich bestenfalls sehr grob skizziert werden. Eine solche würde wohl beinhalten, den Prozess der selbstbestimmten (Eigen- und Fremd-)Kritik zu fördern und damit einen Ausbruch aus den oben beschriebenen Mustern zu ermöglichen. Notwendigerweise bringt dies die Unterstützung oder gar komplette Selbstorganisation eines (gegenseitigen) Bildungs- und Entwicklungsaustauschs mit sich. Bevor dies falsch verstanden wird; es geht hier nicht um die Implementation einer Tierrechtspropagandamaschine – im Gegenteil. Es geht um die Förderung einer kritisch(er)en Gesellschaft, in der eine andere Kultur von (Selbst-)Reflexion entstehen kann. Diese beinhaltet ganz zentral auch einen anderen kulturellen Umgang mit Nichtwissen, Irrtum oder Scheitern. Denn das ermöglicht es überhaupt erst zu lernen und zu wachsen.

Das ist sicherlich kein Allheilmittel und „mach mehr Bildung und Propaganda“ wäre isoliert als Befreiungsstrategie an Plumpheit und Vagheit schwerlich zu übertreffen. Doch als Entwurf zu einer konkreten Ausarbeitung im Rahmen tierbefreierischer Bestrebungen erfüllt es passgenau die oben genannten Anforderungen an eine RR. Es setzt an realen Verhältnissen an, wie auch oben ausgeführt: Wir alle haben etwas zu lernen und etwas zu lehren. Es ist äußerst machbar: Wir können im Kleinsten anfangen und auch nach und nach größere Strukturen aufbauen. Und am aller wichtigsten: Es schafft äußerst fruchtbaren Boden für (tier-)befreierische Ideen und damit für eine solche Bewegung. Als von bestehenden Einrichtungen unabhängige Strategie reproduziert es nicht nur nicht den Kapitalismus, sondern zeigt aktiv autonome(re) Alternativen zu zentralisierten Strukturen auf, während die gesellschaftliche Akzeptanz von Tierausbeutung offensichtlich ebenso nicht verschärft wird.

Meine Interpretation einer RR, welche neben „herkömmlichen“ Tierbefreiungsaktivitäten parallel existieren kann, ist also genau entgegengesetzt zu einem Sprung Richtung Tier*reform. Im Gegenteil, es ist eine Art aggressiver Feminismus, ein Angriff auf die kapitalistische Indoktrination, die selbstverständliche Akzeptanz von Ausbeutungsideologie und Herrschaftsstrukturen. Denn diese Dinge sind es, die unser politisches Wirken so erschweren, eben weil die breite Gesellschaft „noch nicht so weit“ ist.

Fazit

Die konsequente Verknüpfung realpolitisch-revolutionärer Strategien mit tierbefreierischen Zielsetzungen führt uns geradewegs dahin, zu realisieren, dass das Problem bei den Menschen liegt: Nichts, kein Mittel, keine Reform, keine Strategie wird an Ausbeutungsverhältnissen etwas ändern, solange die Menschen reaktionären Quatsch in Kopf und Herz tragen. Und solange der Großteil das größtenteils tut, wird sich auch keine „demokratische Reform“ durchbringen lassen, die hieran etwas ändern kann. Doch gerade an Kopf und Herz der Menschen anzusetzen kann vielleicht die Grundlage für eine breitere Unterstützung revolutionärer Positionen schaffen, gerade wenn eine bessere herrschaftskritische Grundlage gelegt ist. Unsere eigenen Köpfe und Herzen sind davon übrigens keineswegs ausgenommen.

CC BY-SA 4.0