Keine Befreiung mit autoritären Mitteln!

von Ina (In: TIERBEFREIUNG 111, Juni 2021)

Mit der Vortragsreihe Revolutionäre Realpolitik für die Befreiung der Tiere begann eine kontroverse Debatte um Strategien und das Potenzial von Reformen und Realpolitik. Während (Tier*-)Befreiung eine gesamtgesellschaftliche und radikale Veränderung der bestehenden Ausbeutungs- und Herrschaftsverhältnisse zum Ziel hat, richten sich letztere jedoch ausgerechnet an eben jene autoritären Machtstrukturen, welche es überhaupt erst erforderlich machen, strategische Debatten zu führen.

Ein genannter wesentlicher Punkt, weshalb es erforderlich sei, über Revolutionäre Realpolitik und somit über Reformbestrebungen zu sprechen, sei der, dass Tierbefreiung effektiv kaum gesellschaftliche Macht habe. Wir leben jedoch in einer profitorientierten Gesellschaft, welche maßgeblich auf einer ökonomischen Verwertungslogik und einer kapitalistischen Wertehierarchie aufbaut. Einer Gesellschaft, in der es nicht nur politisch, sondern auch gesellschaftlich völlig akzeptierte Normalität ist, Individuen auszubeuten, zu diskriminieren, zu unterdrücken und zu ermorden.

Tierbefreiung steht dieser Gesellschaftsform radikal entgegen. In ihrem Ziel, der Emanzipation aller Tiere, inklusive Menschen, bedeutet Tierbefreiung eine gesamtgesellschaftliche, sprich weitreichende, Umgestaltung anzustreben. Unterdrückungs- und Herrschaftsverhältnisse gilt es zu überwinden. Hierzu gehört unter anderem auch das vorherrschende Mensch-Tier-Verhältnis tiefgreifend und nachhaltig zu verändern. Vor diesem Hintergrund ist Tierbefreiung zugegebenermaßen ihrem Ziel noch fern. Doch das Ziel selbst ist auch ein anderes und liegt auch sehr viel ferner, als im Falle von Tierschutz und auch Tierrechten. Während letztere zwar ebenfalls ein Ende der Ausbeutung von Menschen und anderen Tieren fordern, richten sich doch beide an staatliche Machtstrukturen wie Parteien und Parlamente, ohne diese gleichermaßen überwinden zu wollen.

Ehe nach effektiver „Wirkmacht“ und möglichen Strategien gefragt wird, sollte zunächst also das Ziel konkret definiert werden. Diesbezüglich wurde es bisher jedoch versäumt, die Unterschiede von Tierrechten und Tierbefreiung zu benennen. So wird der Tierrechtsbegriff häufig als Synonym zur Tierbefreiung verwendet, die Bewegungsprofile verschwimmen. Oder aber beide werden zumindest stets in einem Zuge genannt, sodass der Eindruck entsteht, beide verfolgten das gleiche Ziel. Trotz diverser Schnittmengen handelt es sich jedoch schlicht um ungleiche Zielsetzungen, welchen unterschiedliche Gesellschafts-Utopien zugrunde liegen.

Darüber hinaus sind Reformen längst kein neuentdecktes – oder gar „revolutionäres“ – Strategiemittel. Nicht erst seit sie auch im (klassischen) Tierschutz Anwendung finden, also seit mehr als 180 Jahren seit der Gründung der ersten Tierschutzvereine, sind sie in anderen sozialen Bewegungen ebenfalls vielfach „erprobtes“ Mittel zum Ziel. Die gesellschaftliche Effektivität der Reformen muss aber wohl angezweifelt werden angesichts der bis heute mageren Auswirkungen. So konnten beispielsweise weder rassistische noch antisemitische Stereotype zerschlagen werden. Während weiblich gelesenen Personen in der Vergangenheit immerhin schon diverse Rechte zugesprochen wurden, sind wir dennoch weit entfernt davon, Geschlechterrollen und patriarchale Strukturen überwunden zu haben. Ebenso: Trotz des in aller Munde befindlichen „Tierwohl“-Begriffs, ist die Ausbeutung nichtmenschlicher Tiere heute mehr denn je fester Bestandteil kapitalistischer Produktionsweisen. Speziesismus ist akzeptierte Normalität.

Demgegenüber stehen radikalere Positionen, die bisher offensichtlich zumindest nicht völlig ungehört verhallt sind: Mensch-Tier-Verhältnisse werden zunehmend gesellschaftlich und auch wissenschaftlich debattiert und analysiert. Auch in den Medien werden immer öfter Herrschaftsverhältnisse von Menschen über andere Tiere hinterfragt.

Friedrich Kirsch stellt in seinem Vortrag die emotional nachvollziehbare Frage, wie wir das „Leid der weiterhin ausgebeuteten Tiere […] verringern“ können. Im „Sinne der revolutionären Realpolitik“ seien „nur solche Vorhaben“ zu verfolgen, welche „die Ausgangslage für umfassendere Vorhaben verbessern“. Dass sie überhaupt ausgebeutet werden, und auch jene unvorstellbaren Grausamkeiten, kommen allerdings nicht von ungefähr. Jene Praktiken, welche es gemäß Revolutionärer Realpolitik zu reformieren gilt, sind die Folge einer profitorientierten Ökonomie – gedeckt durch ein staatliches Gewaltmonopol, welches insbesondere eigene Interessen vertritt und schützt.

Wie groß mögen die Erfolgsaussichten wohl sein, wenn revolutionäre Ziele abhängen vom Wohlwollen jener staatlichen Gesellschaftsordnung, welche die Revolution überhaupt erst erforderlich macht? Die Einlassung auf autoritäre Staatsmittel und der Appell an jene, erfordern unweigerlich auch deren Anerkennung beziehungsweise im Mindestmaß deren Duldung.

Das vorgestellte Konzept der Revolutionären Realpolitik vermag es insofern nicht, glaubhaft zu machen, tatsächlich (Tier*-)Befreiung zum Ziel zu haben. Eine Realpolitik, die auf „Reformen innerhalb des Systems“ setzt, suggeriert nicht im Ansatz die Bereitschaft, dieses System zu verlassen. Vor diesem Hintergrund wirkt es gar widersprüchlich anzunehmen, Reformen seien mit der Tierbefreiungsposition in irgendeiner Form kompatibel, gleichzeitig jedoch zu betonen, Tierbefreiung sei „im Kapitalismus nicht möglich“.

Zweifelsohne ist es für die betroffenen Tiere* von elementarer Bedeutung, dass ihr Leiden nicht erst langfristig, sondern auch unmittelbar begrenzt wird. Tierbefreiung ist jedoch ein kontinuierlicher Entwicklungsprozess, welcher nicht von einem auf den anderen Tag abgeschlossen sein wird. Dementsprechend wird folglich das autoritäre Gesellschaftssystem als Reaktion auf radikalere Ansprüche auch ganz automatisch zunächst nur Reformen hervorbringen. Dennoch ist es etwas völlig anderes dies zu akzeptieren oder es aktiv in das eigene Bewegungskonzept einzubauen.

Reformierende Ansprüche selbst zu formulieren vermochte es bisher hingegen nicht, radikale Veränderungen zu erwirken. Stattdessen nehmen Reformforderungen zwangsläufig eine Wertung von Leid vor. Dem Darf-nicht-Kriterium, die gesellschaftliche Akzeptanz von Tierausbeutung nicht zu verstärken, läuft dies zuwider. Ebenso widerspricht es dem Anspruch, dass Kapitalismus nicht reproduziert werden dürfe, es jedoch für erstrebenswert zu halten, Ausbeutung „weniger profitabel“ zu gestalten.

In eben jenem Moment, in dem wir selbst benennen, welche Praktiken es zu reformieren gilt, (be)werten und kategorisieren wir diese auch und relativieren zwangsläufig in der öffentlichen Wahrnehmung das Leid, welches auf dem „Weg zum Ziel“ hintenangestellt wird. Wir würden uns ungewollt einer Logik anschließen und diese reproduzieren, die besagt, dass es „weniger grausame“ oder „humanere“ Ausbeutung gäbe. Das vermeintlich geringere Leiden wird so aus dem öffentlichen Fokus genommen – auch wenn wir noch so sehr betonen, dass das eigentliche Ziel die vollständige Abschaffung von Tier*-Ausbeutung sei.

Das Maß, in welchem wir Tiere* ausbeuten und unterdrücken geht über die offensichtlichsten Formen hinaus. So werden nichtmenschliche Tiere beispielsweise auch in privater Gefangenschaft für menschliche Verfügungszwecke ausgebeutet. Als sogenannte Haustiere befriedigen sie Sozialbedürfnisse und werden gefügig sowie von menschlicher Willkür abhängig gemacht. Das aktuelle Mensch-Tier-Verhältnis ist durchgängig von Gewalt geprägt.  Selbst im „Veganismus“ hat sich doch längst die Wahrnehmung breitgemacht, dass Tier*-Ausbeutung mittels Konsumentscheidungen beeinflusst werden könne. Ja selbst die Definition von „Veganismus“ hat an Radikalität verloren, seit es relativierend zu genügen scheint, Leid zu vermeiden, wo es vermeidbar sei. Mit der einst ursprünglichen Begriffsdefinition stimmt dies nicht mehr überein.

Während Reformen und Revolutionäre Realpolitik in ein Konzept von Tierschutz oder Tierrechten passen können, sind sie emanzipatorischen Ansprüchen gegenüber mindestens nicht förderlich, wahrscheinlich sogar aktiv entgegenstehend.

Was ich nicht kann, ist „den einen wahren Weg“, welcher uns der Befreiung näherbringt, zu benennen. Was ich mir wünsche, ist eine kontinuierliche Weiterentwicklung von uns selbst und den unterschiedlichen Bewegungsprofilen. Als nötigen Bestandteil dieses Prozesses, sehe ich eine konsequente Selbstreflektion und Analyse, an welchen Stellen wir beispielsweise aufgrund von sozialen Prägungen selbst noch immer Stereotype reproduzieren. Statt eine „Anschlussfähigkeit“ an den Tierschutz zu suchen, sollten wir uns anschlussfähig an andere emanzipatorische Befreiungsbewegungen machen. Das Konzept Tierbefreiung muss öffentlich sichtbar gemacht werden.

 

[Hinweis: Dieser Text ist nicht nur ein Debattenbeitrag im Magazin TIERBEFREIUNG, er war auch Teil unserer März-Veranstaltung.]