Revolution STATT Reform oder Revolution DURCH Reform?

von Michael Kohler (In: TIERBEFREIUNG 109, Dezember 2020)

„Revolutionäre Realpolitik“ war der Titel eines Vortrages von Friedrich Kirsch auf der diesjährigen International Animal Rights Conference.[1] Ziel des Vortrages sollte sein, zur Schließung einer grundlegenden Lücke in der Strategie der Tierbefreiungsbewegung beizutragen. Dies teilte er in einem Interview mit, welches Friederike Schmitz im Rahmen ihrer Podcast-Reihe „Gespräche über den Ausstieg aus der Tierindustrie“ mit ihm führte.[2] In diesem Interview äußert Friederike Schmitz auch selbst ihre Sympathie mit dem Konzept der revolutionären Realpolitik, das sie ihren Hörer_innen „ans Herz legen“ möchte. Ihr kürzlich erschienenes Buch „Tiere essen – dürfen wir das?“[3] enthält Gedanken, die in eine analoge Richtung weisen. Auch die Gruppierung „Marxismus und Tierbefreiung“ formulierte im Sommer 2019 eine ähnlich erscheinende Stoßrichtung.[4] Die genannten Ansätze wollen eine Lücke schließen beziehungsweise eine Brücke schlagen zwischen kleinen und großen Zielen, Minimal- und Maximalforderungen. Und sie wollen die Basis der Bewegung verbreitern, das heißt Menschen einbeziehen, die sich bisher nur mit einem mehr oder weniger großen Teil der von der Tierbefreiungsbewegung vertretenen Standpunkte identifizieren.

 

Das Konzept der revolutionären Realpolitik

Die Nutztierhaltung abzuschaffen, ist Ziel der Tierbefreiungsbewegung. Nach Kirsch unterscheidet sie sich von der reinen Tierrechtsbewegung vor allem dadurch, dass sie damit zusammenhängend einen grundlegenden Wandel der Gesellschaft anstrebt, eine Gesellschaft ohne Herrschaft und Ausbeutung. Deshalb adressiert sie auch weitere Herrschafts- und Ausbeutungsmechanismen wie Rassismus, Sexismus und neokoloniale Mechanismen. Das aktuelle strategische Defizit, das Kirsch ausmacht, besteht darin, dass noch keine Vorstellungen darüber ausgearbeitet wurden, wie denn dieses Ziel überhaupt erreicht werden könne.

Diese Lücke wird nach seiner Auffassung verursacht durch eine pauschale Ablehnung von Reformen. Reformen würden von Aktivist_innen der Tierbefreiungsbewegung häufig betrachtet als ein Mittel zur Verharmlosung und damit zur Vermehrung der Akzeptanz von Tierausbeutung und deshalb als nicht geeignet zu deren Abschaffung. Bestimmte Reformen könnten aber aus seiner Sicht dazu beitragen, die Ausgangsbedingungen für den Kampf gegen Tierausbeutung zu verbessern, zur Transformation der Gesellschaft beitragen und der Bewegung mehr Macht verleihen. Sie könnten schließlich auch dazu beitragen, jetzt und in den kommenden Jahren – das heißt schon vor der endgültigen Abschaffung der Tierausbeutung – das Leid der Tiere zu mindern. Dazu seien aber nur bestimmte Reformen geeignet, nämlich solche, die in den Kontext eines umfassenderen Programms gestellt werden und bei denen auch das „Framing“ so gestaltet wird, dass das Ziel der endgültigen Abschaffung der Tierausbeutung ersichtlich ist.

Die Ursprünge bei Rosa Luxemburg

Das Konzept der revolutionären Realpolitik sieht Kirsch keineswegs als neu, in anderen Sozialbewegungen würde es bereits angewendet, gedanklich lasse es sich zurückverfolgen auf Rosa Luxemburg. Diese verfasste ab 1898 eine Aufsatzreihe für die sozialdemokratische „Leipziger Volkszeitung“, die 1899 auch als Broschüre erschien mit dem Titel „Sozialreform oder Revolution“. 1871 in Polen geboren, musste sie 1888 flüchten, studierte und promovierte in der Schweiz und beschloss dann, sich der deutschen Sozialdemokratie anzuschließen. Schon fünf Monate nach ihrer Ankunft in Deutschland ist sie bekannt als außergewöhnliche Rednerin und wird zur Delegierten des Stuttgarter Parteitages 1898 gewählt.

Mit einer in der gesamten Partei aufsehenerregenden Selbstsicherheit spricht sie dort am ersten Tag in ihrem ersten Satz aus, „dass sich in unserer Partei ein äußerst wichtiger Punkt verdunkelt hat, nämlich das Verständnis von der Beziehung zwischen unserem Endziel und dem alltäglichen Kampfe.“[5] Der Angriff richtete sich vor allem gegen Eduard Bernstein und dessen ab 1897 erschienene Aufsatzreihe „Probleme des Sozialismus“. Bernstein hatte bereits 1891 den praktischen Teil des Erfurter Programms der SPD geschrieben, welches eine strikte Trennung zwischen sozialistischem ‘Maximalprogramm’ und reformistischem ‘Minimalprogramm’ enthalten hatte. Friedrich Engels hatte diese Trennung scharf kritisiert. Mit ihr einherging die Beschränkung auf eine reformistische Praxis, auf reine Tagesforderungen. Die Umgestaltung der Gesellschaft wurde zu einem Thema für Sonntagsreden. Wohin dies führen konnte, zeigte gerade 1898 der SPD-Reichstagsabgeordnete Wolfgang Heine, welcher vorschlug, die SPD solle der Regierung Kanonen bewilligen, um dafür im Gegenzug eine Ausweitung demokratischer Rechte zu erhalten. Luxemburg nun formulierte, was sie sowieso für grundlegendes sozialistisches Gedankengut hielt, dass Reformen nicht abzulehnen seien, aber in Verbindung mit dem ‘Endziel’ der sozialistischen Umgestaltung stehen und dieses vorbereiten sollten. Die Sozialreform sei das Mittel, das eigentliche Ziel aber sei die soziale Revolution (die aber, so sollte aus der Sicht heutiger Erfahrungen ergänzt werden, wiederum nur ein Mittel ist, um die Voraussetzungen für eine solidarische Gesellschaft der Gleichen und Freien zu schaffen M.K.). Bernstein grenzt sich hiervon in aller Schärfe ab mit dem Satz: „Das Endziel, was immer es sei, ist mir gar nichts, die Bewegung alles.“ Luxemburg aber argumentierte, wer sich anstatt und im Gegensatz zur Eroberung der politischen Macht für den gesetzlichen Reformweg ausspreche, der wähle nicht einen ruhigeren, langsameren Weg zum gleichen Ziel, sondern auch ein anderes Ziel. Das Ziel der sozialistischen Umgestaltung der Gesellschaft war es also, das Luxemburg verteidigte, mit diesem Thema debütierte sie in der deutschen Sozialdemokratie, dieses Thema sollte ihr Leben bestimmen und schließlich auch zur Trennung von der SPD führen.

Zum Begriff Realpolitik

An diesen Gedanken Luxemburgs knüpft Friedrich Kirsch an und bezeichnet die von ihm hieraus entwickelten Konzepte als „revolutionäre Realpolitik“. Diese Wortwahl ist für mein Empfinden insofern unglücklich, als die Bezeichnung „Realpolitik“ in Deutschland einen Bedeutungshof hat, der in schroffem Gegensatz zum Gedankengut einer Rosa Luxemburg steht. Als Realpolitiker_innen wurden hier in den letzten Jahrzehnten diejenigen bezeichnet, die die Politik der Grünen Partei neoliberalen Konzepten unterordneten, die mitverantwortlich zeichneten für den ersten Angriffskrieg mit deutscher Beteiligung nach ´45 und für den umfassendsten Sozialabbau seitdem, die also die Art von Kapitalpolitik realisierten, zu deren Durchsetzung CDU, CSU und FDP nicht in der Lage gewesen wären. (Eine ähnliche Dynamik sehen wir derzeit in Berlin, wo die rot-rot-grüne Koalition linke Freiräume schleift in einem Ausmaß, wie es seit Jahrzehnten keiner anderen Stadtregierung gelang.) Die englische Bezeichnung „revolutionary pragmatism“ hat möglicherweise diesen Bedeutungshof nicht, ist dafür aber noch ungenauer und geht ebenfalls am Luxemburgischen Kerngedanken meilenweit vorbei. Der Bedeutungshof, der in Deutschland dem Begriff „Realpolitik“ zugefallen ist, sollte Grund genug sein, ihn nicht zu verwenden für eine Bewegung, deren Haltung für umfassende emanzipatorische Ziele steht. Aber auch historisch gesehen ist das Aufgreifen dieses Begriffes fragwürdig. In ihrem Buch „Sozialreform oder Revolution?“ verwendet Luxemburg ihn überhaupt nicht, er taucht in ihren Schriften nur ein einziges Mal auf in einem Artikel, den sie 1903 anlässlich des 20. Todestages von Karl Marx schreibt und der sich mit der Frage von Reformen gar nicht beschäftigt. Darauf weist Michael Brie hin in einem Artikel, auf den sich auch Friedrich Kirsch bezieht.[6] Brie schreibt weiter, die Linke habe in den letzten hundert Jahren bereits viele Erfahrungen mit einer revolutionären Realpolitik gemacht. Hierzu zählt er unter anderem die Bemühungen um eine Einheitsfront oder Volksfront in den 1920er und 1930er Jahren, um einen linken historischen Block durch die Kommunistische Partei Italiens und einiges mehr. Im Kampf gegen den Faschismus wurde bekanntlich eine Einheitsfront sozialdemokratischer und kommunistischer Arbeiter_innen von den Führungen beider Parteien verhindert. Obwohl, wie heute gut belegt ist, die Anhängerschaft beider Parteien dazu bereit war und sich diese Einheit wünschte. Dass diese Einheitsfront nicht zustande kam, kann als die eigentliche Katastrophe des 20. Jahrhunderts angesehen werden. In Frankreich, später in einigen anderen Ländern beteiligten sich aber sozialdemokratische und kommunistische Parteien an Regierungen, die sich als Volksfront bezeichneten, ihre Politik aber bürgerlichen Zielen unterordneten. Die französische KP beispielsweise unterstützte in einer „patriotischen Wende“ die imperialistische Kolonialpolitik des Landes. In den 70er- und 80er-Jahren des letzten Jahrhunderts beteiligten sich im Rahmen des sogenannten Eurokommunismus kommunistische Parteien an bürgerlichen Regierungen, verteidigten Austeritätsprogramme und trugen in klassisch sozialdemokratischer Manier und unter Verwendung der Gedanken von Kautsky und Bernstein zur Stabilisierung des Kapitalismus bei. Wie die französische Volksfront ins Vichy-Regime führte, führten auch alle anderen Volksfronten zu schweren Demoralisierungen der Arbeiterbewegung, die den Weg für autoritäre oder faschistische Regime frei machte. Das Aufgeben revolutionärer und internationalistischer Perspektiven durch die Komintern-Parteien lässt sich zurückführen auf die Stalinsche Doktrin vom „Aufbau des Sozialismus in einem Lande“. Ab 1937 diente es auch der einsetzenden Kooperation zwischen Stalin und Hitler. Anarchist_innen, Trotzkist_innen und andere linke Kommunist_innen, die an revolutionären und internationalistischen Standpunkten festhielten, wurden in großer Anzahl vom Stalinschen Geheimdienst NKWD ermordet, vor allem in Spanien. Die reformistische Unterordnung unter eine bürgerliche Politik, welche sozialdemokratische, kommunistische und eurokommunistische Parteien betrieben, ist genau die Art von Politik, die Rosa Luxemburg zeitlebens am entschiedensten bekämpfte. Sie heute, wie Michael Brie es tut, mit ihrem Namen in Verbindung zu bringen, ist eine Unverfrorenheit.

Dass der Grundgedanke, Nah- und Fernziele miteinander zu verknüpfen, von großem Wert und großem Potential ist und dies gerade für die Tierbefreiungsbewegung, die ja verschiedene Herrschafts- und Ausbeutungsarten miteinander in Verbindung sieht, steht für mich dennoch außer Zweifel. Es kommt aber, um in den historischen Vergleichen zu bleiben, darauf an, den Weg der Aktionseinheit zu gehen und nicht den der Volksfront. Dies bedeutet, die größtmögliche Einheit in konkreten Kämpfen zu suchen mit Menschen und Organisationen, die in diesen Kämpfen mit uns gemeinsame konkrete Ziele haben. Diese Ziele müssen nicht unbedingt kurzfristig erreichbar sein. Aktionseinheiten lassen sich auch auf propagandistische Ziele gründen, zum Beispiel auf die Forderung „Weg mit der Massentierhaltung!“ Was aber abzulehnen ist, weil sich die Tierbefreiungsbewegung damit selbst verraten würde, sind Bündnisse auf programmatischer Ebene.

Die antikapitalistische und herrschaftskritische Haltung, die Bekämpfung des Speziesismus und der Ausbeutung menschlicher wie nichtmenschlicher Tiere sind nicht verhandelbar.

Es geht niemals nur um die Tiere – Beispiel Zirkustiere

Die Notwendigkeit, Nah- und Fernziele miteinander zu verknüpfen gilt nicht nur für die aufzustellenden Forderungen, sondern auch schon für die Kritik an den bestehenden Verhältnissen. Horkheimer konstatierte einen dreifachen Zusammenhang: zwischen erstens der Unterdrückung von Menschen durch andere Menschen, zweitens zwischen der Unterdrückung von Menschen und der Unterdrückung und Ausbeutung der Natur und drittens zwischen der Unterdrückung der äußeren und der inneren Natur bei jedem einzelnen Menschen.

Dies zu Ende gedacht bedeutet unter anderem, dass es niemals nur um die Tiere gehen kann.

Beispielsweise, wenn es um Zirkustiere geht: Befürworter_innen führen häufig als (letztes) Argument an, man solle den Kindern diese Erlebnismöglichkeit nicht nehmen. Eine nähere Betrachtung zeigt aber: Auf Kinder kann es einen ausgesprochen unguten Einfluss ausüben, einen Zirkus mit Tieren zu besuchen. Es gibt wohl kaum ein Kind, das den Zirkus nicht liebt und genauso viele Kinder lieben Tiere. Aber was sie im Zirkus sehen, sind Tiere, die sich entweder artfremd oder apathisch verhalten. Große Dichter wie Rilke erspürten intuitiv, wie Tiere sich in Gefangenschaft fühlen. Die meisten Kinder können dies ebenfalls noch spontan erfassen, auch wenn sie es nicht so wie Rilke in Worte kleiden oder sich überhaupt bewusst machen können. Sie sehen außerdem, dass es anscheinend normal ist, Tiere zu zwingen und zu erniedrigen. Mit ihrem feinen Gespür erfassen sie, dass diese Tiere leiden. Aber auch wenn sie es schaffen würden, sich das bewusst zu machen und dafür Worte zu finden, würde es ihnen schwerfallen, dies anzusprechen, denn dies wäre in ihren Augen undankbar gegenüber den Eltern und gegenüber den Zirkusmenschen. Wer Kinder in diesem Konflikt beobachtet, kann sehen, wie schwer ihnen eine Orientierung fällt. Einige wenige wenden sich von den Tieren oder den Zirkussen ab, verlieren anscheinend das Interesse. Die meisten aber entwerten ihr eigenes Mitgefühl und nehmen es zurück. Sie folgen damit dem Beispiel der Erwachsenen, für die alles anscheinend vollkommen normal und in Ordnung ist. Das aber bedeutet, dass wir Erwachsenen der Entwicklung unserer Kinder – vor allem ihrer charakterlichen und sozialen Entwicklung – Schaden zugefügt haben. Gibt es einen größeren Schaden für die Entwicklung eines Menschen als den Verlust des Mitgefühls?

In ihrem Buch „Beziehungsweise Revolution“[7] legt Bini Adamczak dar, dass das „Begehren nach gesellschaftlichen Beziehungsweisen der Solidarität“ eine unterschätzte, aber gleichwohl elementare Triebkraft gesellschaftlicher Umwandlungen darstellt. Die Sicht der Tierbefreiungsbewegung könnte durch die überzeugende Verbindung dringender Reformen mit Zielvorstellungen, die aus der Tiefe menschlicher Bedürfnisse heraus motivieren, sich besonders dazu eignen, diese Kraft anzusprechen und freizusetzen.

Die Basis der Bewegung verbreitern

Wir erleben eine tiefgreifende Zivilisationskrise, die maßgeblich durch die kapitalistische Tierausbeutung verursacht wurde. Und dennoch scheint es derjenigen sozialen Bewegung, die mit enormer Hingabe und Ausdauer diese Tierausbeutung bekämpft, kaum zu gelingen, mehr Umfang und mehr Einfluss zu erreichen. Das Konzept der revolutionären Realpolitik soll dies ändern. Die Vorstellung ist wohl, dass die Basis verbreitert und der Einfluss vermehrt würde, wenn man erstens konkrete, überzeugende und erreichbare Ziele hätte, für die man kämpft und wenn zweitens die Eingangsvoraussetzungen gesenkt würden, man also nicht gleich das komplette Tierbefreiungsprogramm unterschreiben muss, um mitzumachen, sondern es ausreicht, sich mit dem konkreten Teilziel zu identifizieren.

Und hier sehe ich eine Parallele zu Friederike Schmitz. In ihrem neuen Buch[3] geht es ums Fleischessen. Sie konstatiert in der Bevölkerung einerseits ein tiefes Unbehagen mit der Massentierhaltung, welches andererseits nur selten dazu führt, die persönlich mögliche Konsequenz zu ziehen und die Ernährung auf pflanzliche Kost umzustellen. Um die Schwelle für diesen Schritt zu senken, geht sie einen neuen Weg: Sie beginnt nicht mit den grundsätzlichen Fragen, ob Tiere Rechte haben oder ob man sie zum Verzehr töten darf, sondern lässt diese Überlegungen erst mal ganz außen vor. Stattdessen geht sie von den Überzeugungen aus, über die weitgehend Konsens herrscht und denen ihre Leser_innen vermutlich bereits zustimmen. Beispielsweise, dass es nicht richtig ist, fühlenden Tieren ohne wichtigen Grund großes Leid und Schaden zuzufügen. Dann weist sie detailliert nach, dass ungefähr 99,9% der Tierprodukte, die hier käuflich sind, auf eine Art und Weise hergestellt sind, die mit dieser Überzeugung nicht vereinbar ist.

Was Friederike Schmitz hier tut, ist, dass sie am Bewusstsein der Menschen ansetzt, so wie es ist und an dem Bedürfnis jedes Menschen, in Übereinstimmung mit den eigenen Werten zu handeln.

Von dieser Vorgehensweise kann die Tierbefreiungsbewegung lernen.

Geeignete und ungeeignete Reformforderungen

Wie eingangs erwähnt entwickelt Kirsch ein detailliertes Prüfsystem dafür, ob eine Reformforderung im Rahmen einer revolutionären Realpolitik geeignet und zulässig ist oder nicht. Dieses Prüfsystem wirkt zwar etwas mechanisch, enthält aber wichtige Inhalte. Der vielleicht wichtigste Inhalt fehlt jedoch: Die Forderung muss am Bewusstsein der Menschen ansetzen, so wie es ist und an den Bedürfnissen der Menschen, beispielsweise dem Bedürfnis, in Übereinstimmung mit den eigenen Werten zu handeln.

Eine herausgehobene Bedeutung spielt Kriterium Nummer drei, die Forderung solle die Grundlagen der Tierbefreiung verbessern, das heißt (so übersetze ich es) zum Wachstum und zur Stärkung der Bewegung beitragen. Was heißt das? Nun ist wohl festzustellen, dass eine Bewegung dadurch gestärkt wird, dass sie überhaupt eine Forderung durchsetzen kann, wobei es zunächst keine Rolle spielt, welche Forderung dies ist. Besonders stärkend sind aber Forderungen, die dazu führen, dass Macht, Einfluss und Entscheidungsmöglichkeiten denen genommen werden, die sie jetzt in Händen haben. Ich denke an Forderungen nach Transparenz, nach Kontrollmöglichkeiten, Klagerechten, nach Einfluss auf Finanzierungs- und Verteilungswege. Kirsch bezeichnet dies als gesellschaftliches Transformationspotential. Ein sorgfältig ausgearbeiteter und überzeugender Ansatz in diese Richtung sind die vierzig Forderungen, die das „Bündnis für gesellschaftliche Tierbefreiung“ (von dem sonst leider nur wenig bekannt ist) vorgelegt hat.[8] Eine breitere Bewegungsbasis wird sich aber vermutlich nicht durch das Aufstellen von vierzig Forderungen erreichen lassen, sondern durch Bündnisse, die sich auf eine oder zwei Ziele und Forderungen einigen. Zurzeit scheint mir die Forderung nach einem Ende der Massentierhaltung als besonders geeignet.

 

[1] https://www.youtube.com/watch?v=7ezD8AjPlrM

[2] https://friederikeschmitz.de/podcast/

[3] Schmitz, Friederike. Tiere essen – dürfen wir das? Metzler, Stuttgart, 2020

[4] https://www.facebook.com/marxismusundtierbefreiung

[5] zitiert nach: Hirsch, Helmut. Rosa Luxemburg – In Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Rowohlt, Hamburg 1969

[6] https://www.zeitschrift-luxemburg.de/abc-revolutionaere-realpolitik/

[7] Adamczak, Bini. Beziehungsweise Revolution. 1917, 1968 und kommende. Suhrkamp, Berlin 2017

[8] Tierbefreiung Nr. 108, September 2020