Revolutionärer Tierschutz?

Plädoyer für eine Tierbefreiungspolitik im Sinne revolutionärer Realpolitik

von Friedrich Kirsch (In: TIERBEFREIUNG 109, Dezember 2020)

Klar ist: Die Befreiung aller Tiere liegt angesichts der aktuellen Kräfteverhältnisse nicht in der Luft und wird auch nicht auf einen Schlag umgesetzt werden können. Daher braucht es Konzepte, die an den bestehenden Verhältnissen ansetzen und Wege aufzeigen, wie wir nichtsdestotrotz auf die Tierbefreiung hinarbeiten können. Auf der International Animal Rights Conference 2020 habe ich ein Plädoyer für eine intensivere politische Diskussion um die Rolle von Reformen in der Tierbefreiungsbewegung gehalten.[1] Der folgende Debattenbeitrag knüpft an den englischsprachigen Online-Votrag an – Kritik und weiterführende Gedanken sind sehr willkommen!

Angesichts der aktuellen Ausmaße der Tierausbeutung und der ungebrochenen Macht ihrer Profiteur*innen drängen sich Fragen auf wie: Wie können wir dennoch Fortschritte verzeichnen, um unsere Ausgangslage zu verbessern? Welche Bündnisse können und sollten wir eingehen? Und insbesondere auch: Wie können wir die Ausbeutung der Tiere verringern, die heute und in den (vielen) nächsten Jahren bis zur Befreiung aller Tiere noch leiden werden?

Aus meiner Sicht haben wir in der Tierbefreiungsbewegung auf diese Fragen bislang nur unzureichende Antworten. In diesem Sinne gehe ich im Folgenden auf das Konzept der revolutionären Realpolitik ein, das für die Tierbefreiung hilfreich sein könnte.

Das Konzept der revolutionären Realpolitik

Der Begriff der revolutionären Realpolitik entstand um Rosa Luxemburg zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Realpolitik kann kurz gesagt verstanden werden als das politische Tagesgeschäft bestehend aus mehr oder weniger kleinen Reformen, in Abgrenzung zu umfassenden Transformationen oder umwälzenden Revolutionen. Nach Luxemburg sind die vermeintlichen Gegensätze Reform und Revolution jedoch eigentlich „nicht verschiedene Methoden“, sondern „verschiedene Momente in der Entwicklung der Klassengesellschaft, die einander ebenso bedingen und ergänzen, zugleich aber ausschließen, wie zum Beispiel Südpol und Nordpol“.[2] Oder in anderen Worten:

„Die proletarische Realpolitik ist aber auch revolutionär, indem sie durch alle ihre Teilbestrebungen in ihrer Gesamtheit über den Rahmen der bestehenden Ordnung, in die sie arbeitet, hinausgeht.“[3]

Revolutionäre Realpolitik strebt danach, in der gegenwärtigen Gesellschaft Tendenzen zu stärken, die über die bestehenden Ausbeutungssysteme hinausweisen. Dafür bedient sich revolutionäre Realpolitik auch Reformen innerhalb des Systems, mit denen weitreichenderen Transformation begünstigt und gegebenenfalls Bruchpunkte gesetzt werden können, um gewisse progressive Veränderungen unumkehrbar zu machen.

Ausführlichere Informationen über das Konzept der revolutionären Realpolitik finden sich unter anderem in der Zeitschrift „Luxemburg. Gesellschaftsanalyse und linke Praxis“.[4] Andere Konzepte, die in eine ähnliche Richtung gehen, möchte ich ebenfalls an der Stelle kurz erwähnen: Der Sozialphilosoph André Gorz spricht etwa von „revolutionären“ oder auch „nicht-reformistischen Reformen“, die eine radikale Transformation der Gesellschaft vorbereiten; der marxistische Philosoph Ernst Bloch prägte den Begriff der „konkreten Utopie“ und der marxistische Soziologe Erik Olin Wright die „reale Utopie“ und den „sozialistischen Kompass“.[5]

Diskurs in der Tierbefreiungsbewegung

Seit dem Entstehen der Tierbefreiungsbewegung gibt es Akteur*innen, deren praktische Politik in Teilen durchaus als revolutionäre Realpolitik bezeichnet werden könnte. Manche beziehen sich auch theoretisch auf das Konzept, so thematisierte etwa das Bündnis Marxismus und Tierbefreiung wiederholt eine revolutionäre Realpolitik für die Tierbefreiung.[6]

Insgesamt jedoch ist der Diskurs um Reformen und Interventionen in tagespolitische Entwicklungen in der (deutschsprachigen) Tierbefreiungsbewegung bislang vor allem durch die Abgrenzung zur Tierschutzbewegung geprägt. Der Tierschutz wird abgelehnt, da er die Reform anstelle der Abschaffung der Ausbeutung von Tieren als Ziel habe. Für die meisten Aktiven und Gruppen der Tierbefreiungsbewegung gehört es daher zum Selbstverständnis, sich klar von Tierschutzreformen abzugrenzen.

Dabei sind Tierschutzreformen nicht zwingend inkompatibel mit der Tierbefreiungsposition, wie etwa Emil Franzinelli in Ausgabe 82 dieses Magazins ausführt:

„Manche Unterdrückung lässt sich (noch) nicht abschaffen oder verhindern. Die Frage ist dann, ob sich gleichzeitig sowohl langfristig für die Abschaffung/die Beendigung der Gewalt als auch mittelfristig für die Linderung von Leid und Unterdrückung eingesetzt werden sollte oder kann. Das kann als Widerspruch angesehen werden, muss es aber nicht sein.

[…] Bei der Ausbeutung nichtmenschlicher Tiere könnten Reformen jedoch tatsächlich dazu führen, dass das Leiden verringert wird. […] Wobei zu überlegende Fragen sind, welches Vorgehen eher dazu führt, dass die Gewaltverhältnisse etwas gemildert werden, ob die Reformbemühungen an sich hinreichend erfolgreich sind und ob sich der politische Einsatz für die Abschaffung von Tierausbeutung mit dem Einsatz für Reformen so vereinbaren lässt, dass die abolitionistische Haltung nicht verloren geht.“

Die entscheidende und bislang nicht hinreichend beantwortete Frage ist also, welche Reformen einen Beitrag leisten könnten zur Tierbefreiung und welche Rolle der Tierbefreiungsbewegung im politischen Ringen um die Umsetzung der Reformen zukommen könnte.

Exkurs: Revolutionäre Realpolitik in anderen sozialen Bewegungen

Bevor ich im Folgenden näher auf revolutionäre Realpolitik im Kontext von Tierbefreiung eingehe, möchte ich zunächst kurz den Vergleich zu anderen emanzipatorischen sozialen Bewegungen ziehen: Wie schaffen andere den Spagat zwischen einerseits revolutionären Zielen und andererseits Solidarität mit real Ausgebeuteten sowie politischem Wirken angesichts enorm ungleicher Kräfteverhältnisse?

Mit Bezug auf die Ausbeutung von Arbeiter*innen ist die anarchosyndikalistische Gewerkschaft FAU (Freie ArbeiterInnen-Union) ein wie ich finde interessantes Beispiel:

„Politische Reformen lehnen wir nicht ab, wenn sie reale Verbesserungen der Lebenssituation beinhalten oder unsere Rechte stärken und nicht im Widerspruch zu unseren Zielen stehen. Wir lehnen jedoch Reformismus als eine Haltung ab, die nicht versucht, die bestehenden Ausbeutungs- und Unterdrückungsverhältnisse grundlegend zu ändern, sondern sie stattdessen stabilisiert.“[7]

Ähnlich drückt es die Internationale Sozialistische Organisation (ISO) in ihren programmatischen Grundüberzeugungen aus:

„Wir unterstützen grundsätzlich alle Forderungen, die die Lebenslage der abhängig Beschäftigten und anderer unterdrückter Schichten zu verbessern streben oder die geeignet sind, die politischen Kräfteverhältnisse zugunsten der Unterdrückten zu verschieben. Doch in keinem Fall beschränken wir unsere eigenen Forderungen auf das, was innerhalb dieses Systems als „machbar“ oder „realistisch“ angesehen wird.“[8]

Hier wird die Haltung deutlich, dass nicht Reformen an sich, sondern vielmehr Reformismus als Haltung abzulehnen sei. Neben dem Kriterium, ob Reformen die Kräfteverhältnisse positiv verschieben, ist ein maßgebliches Kriterium für unterstützenswerte Reformen, ob damit eine reale Verbesserung für die gegenwärtig Ausgebeuteten einhergeht. Selbst wenn das Potential mancher Reformen so begrenzt ist, dass eine aktive Unterstützung nicht gerechtfertigt wäre, sollten die mit ihnen einhergehenden realen Verbesserungen dennoch nicht abgelehnt werden.

Sicherlich lassen sich solche Überlegungen aus anderen Bewegungen nicht direkt auf die Tierbefreiungsbewegung übertragen. Aber sie können dazu beitragen, eine differenziertere Haltung gegenüber Reformen der Ausbeutung von Tieren zu erarbeiten.

Revolutionärer Tierschutz?

Wie könnte nun insbesondere eine Tierschutz-Politik aussehen, die sich in eine revolutionäre Realpolitik für die Tierbefreiung einfügt? Klar ist: die vorherrschenden Tierschutz-Strömungen, also der sogenannte klassische Tierschutz sowie der moderne Tierschutz (auch „New Welfarism“ genannt),[9] sind es nicht. Dem klassischen Tierschutz liegt das Verständnis zugrunde, dass es durchaus legitim ist, nichtmenschliche Tiere für menschliche Zwecke zu nutzen, solange „unnötiges“ Leiden beziehungsweise Missbrauch vermieden wird. Demgegenüber lehnt der moderne Tierschutz zwar durchaus die Tiernutzung insgesamt ab, verbleibt dabei aber in systemkonformen Tierschutzvorhaben, häufig in Kooperation mit den Profiteur*innen der Tierausbeutung sowie dem Staat.

Reformen der Tierausbeutung grundsätzlich abzulehnen, kann jedoch meiner Meinung nach nicht die Konsequenz aus der Ablehnung der vorherrschenden Tierschutz-Strömungen sein. Denn: Wenn wir solidarisch sein wollen, dann ist auch das Leid der real ausgebeuteten Tieren zu berücksichtigen. Der Tierwohl-Philosoph Daniel Wawrzyniak führt das in seinem Buch „Tierwohl und Tierethik“ treffend aus:

„Wenn uns das Wohl individueller Tiere interessieren muss […] dürfen sich unsere Bemühungen nicht allein auf das Wohl künftiger Tiere richten, die nicht mehr der Nutztierhaltung unterzogen werden, sondern auch das Wohl derer, die ihr bis zum umgesetzten Ausstieg weiterhin noch unterworfen sind. Eine Verbesserung ihrer Haltungs- und Lebensbedingungen ist anzustreben […]. […] was das Ziel von relativen Tierwohlverbesserungen sein muss: denjenigen Tieren ein zumindest angenehmeres Leben zu ermöglichen, die aus den oben aufgeführten Gründen weiterhin der Nutztierhaltung unterzogen bleiben werden. Denn auch ihr Wohl verdient Berücksichtigung“[10].

Ein Tierschutz, der ein Teil einer revolutionären Realpolitik für die Tierbefreiung sein könnte, müsste demnach meiner Ansicht nach ein revolutionärer Tierschutz sein. Ein revolutionärer Tierschutz würde wie der moderne Tierschutz die komplette Abschaffung der Tierausbeutung anstreben und dabei auf dem Weg dahin das Leid der weiterhin ausgebeuteten Tiere zu verringern versuchen – aber im Gegensatz zum modernen Tierschutz nur solche Vorhaben verfolgen, die dabei im Sinne der revolutionären Realpolitik die Ausgangslage für umfassendere Vorhaben verbessern. Also eine Politik, die

  • auf kurze Sicht die Ausbeutung von Tieren verringert
  • und mitteil- bis langfristig das Ende der Tierausbeutung erreichbarer macht,
  • ohne dabei die revolutionären Ziele zu verraten.

Dabei kann es selbstverständlich Reformen geben, die sowohl in das Programm des klassischen und modernen wie auch des revolutionären Tierschutzes passen. In der Praxis müsste insbesondere angesichts begrenzter Ressourcen unterscheiden werden zwischen vielversprechenden Vorhaben, auf die es aktiv hinzuarbeiten gilt, unterstützenswerten Vorhaben, die im Falle erfolgreicher Zuspitzung durch andere Akteur*innen unterstützt werden sollten, und akzeptablen Reformen, die zumindest nicht bekämpft werden dürften.

Da Tierausbeutung ein vielschichtiges Problem ist und verschiedenste Politik-Felder betrifft, kann eine revolutionäre Realpolitik zur Tierbefreiung offensichtlich nicht auf das Politikfeld Tierschutz beschränkt sein. Tierbefreiung betrifft auch Ernährungspolitik, Landwirtschaftspolitik, Arbeitspolitik und Handelspolitik, um nur einige zu nennen. Die folgenden Vorschläge gelten daher explizit nicht nur der Tierschutz-Politik.

Kriterien revolutionärer Realpolitik für die Tierbefreiung

Um den abstrakten Rahmen revolutionärer Realpolitik mit Inhalten zu füllen, können konkrete Kriterien hilfreich sein. Solche Kriterien erfordern selbstverständlich kontinuierlicher Überarbeitung und Aktualisierung. Denn: Es handelt sich hierbei nicht bloß um rein moralische Handlungsempfehlungen, die für alle und überall gelten, sondern um differenzierte politische Abwägungen.

Im Folgenden präsentiere ich einen ersten Vorschlag von Kriterien, unterteilt in vier Kategorien: 1) Muss-Kriterien, 2) Soll-Kriterien, 3) Soll-Nicht-Kriterien und 4) Darf-Nicht-Kriterien.

Muss-Kriterien

Reformen müssen …

  • an reale Umstände anknüpfen: Vorhaben müssen von den gegenwärtigen gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Kräfteverhältnisse ausgehen und an den aktuellen Entwicklungen ansetzen, um überhaupt als Reformen in Frage zu kommen.
  • machbar sein: Um in der Praxis Anwendung finden zu können, müssen Reformen im Bereich des Machbaren liegen. Konkret bedeutet das, dass unter anderem die gesellschaftlichen, ökonomischen und technologischen Voraussetzungen für ein Vorhaben unmittelbar erfüllbar sein müssen.
  • die Ausgangslage für die Tierbefreiung verbessern: Reformen müssen eine Perspektive weisen und die nächsten Schritte hin zu einer weitreichenderen Transformation andeuten; konkret könnte das die gesteigerte Akzeptanz für größere Veränderungsprozesse, Bruchpunkte in der Verwertungslogik von Tieren oder die Steigerung der Ressourcenmobilisierung der Tierbefreiungsbewegung sein.

Soll-Kriterien

Reformen sollen …

  • das Leiden der Tiere verringern: Sofern Reformen einen direkt Bezug zu Tierleid aufweisen, müssen sie echte Verbesserungen für die Tiere mit sich bringen und dürfen keine reinen Schein- oder Marketing-Lösungen sein; die Umsetzbarkeit der Verbesserungen darf dabei nicht abhängig sein von externen Faktoren, sodass eine spätere Verschleppung ermöglicht wird. Da nicht alle Reformen, die uns der Tierbefreiung näherbringen, einen direkten Bezug zum Leiden der Tiere aufweisen (etwa im Kontext von Arbeitsrechten oder Ernährungspolitik) ist dies ein Soll-Kriterium.
  • anschlussfähig für andere progressive Bewegungen sein: Der Kampf für die Befreiung ist intersektional. In diesem Sinne ist es wichtig, die Zusammenarbeit mit anderen Bewegungen zu fördern, insbesondere in Zeiten von erstarkenden reaktionären Kräften.
  • das gesellschaftliche Transformationspotential erhöhen: Um einen umfassenden Systemwandel einzuläuten, braucht es einen deutlichen Zuwachs an politischer Selbstorganisation und Selbstermächtigung in der Gesellschaft. Daher sollten Reformen dazu beitragen, den direkten gesellschaftlichen Einfluss auf politische Entscheidungen zu erhöhen und die demokratische Partizipation zu vertiefen.
  • die Tierausbeutung weniger profitabel machen: Die Profiteur*innen der Tierausbeutung haben eine enorme ökonomische und politische Macht, die sie zur Aufrechterhaltung der Ausbeutung einsetzen. Eine Einschränkung der Profitabilität trägt zur Begrenzung dieser Macht bei.

Soll-Nicht-Kriterien

Reformen sollen nicht …

  • den Programmen anderer progressiver Bewegungen entgegenstehen: Sind Reformen nicht anschlussfähig für andere Bewegungen (siehe entsprechendes Soll-Kriterium), sollten sie zumindest deren Programmen nicht entgegenstehen, damit gegenseitige Solidarität und zukünftige Zusammenarbeit weiterhin möglich sind.

Darf-Nicht-Kriterien

Reformen dürfen nicht …

  • die gesellschaftliche Akzeptanz von Tierausbeutung verstärken: Speziesismus ist eine tragende Säule der Tierausbeutung. Reformen dürfen daher nicht zur Reproduktion des Speziesismus beitragen. Inwiefern die gesellschaftliche Akzeptanz von Tierausbeutung durch Reformen beeinflusst wird, dürfte nicht zuletzt eine Frage der Kommunikation sein. Eine zentrale Rolle dürfte dabei spielen, dass die Ausbeutung der Tiere als eine zentrale Motivation für die Reformen angeführt wird und deutlich gemacht wird, dass die Reformen keinen endgültig zufriedenstellenden Zustand herbeiführen, sondern sich vielmehr weitreichendere Transformation anschließen müssen.
  • zur Reproduktion des Kapitalismus beitragen: Der Kapitalismus ist maßgeblich für die gegenwärtigen enormen Ausmaße der Tierausbeutung verantwortlich und ein Ende der Tierausbeutung sowie eine Befreiung der Tiere ist nicht im Kapitalismus möglich. Daher scheiden Reformen, die zur Reproduktion des Kapitalismus beitragen, etwa neoliberale Vorhaben in Kooperation mit großen Konzernen, für eine revolutionäre Realpolitik aus.
Anwendung der Kriterien in der Praxis

In der Praxis wird es sicherlich Kontroversen geben bei der Bewertung von möglichen Reformen anhand solcher Kriterien. Umso wichtiger ist es, dass sich die politische Diskussion an wissenschaftlichen Erkenntnissen orientiert und die jeweils spezifischen Umstände potentieller Reform berücksichtigt. Was zunächst selbstverständlich klingen mag, ist es in der Praxis bisweilen nicht. Die Diskussionen hinsichtlich Reformen sind häufig gekennzeichnet durch Moral, gefühlte Zusammenhänge und Gemeinplätze. So schrieb Alina Schmitt 2014 in diesem Magazin:

„Reformismus oder Abolitionismus – viele Theorien und Gedanken kreisen um diese Thematik. Vermutungen, Meinungen, Abgrenzungen entstehen – sie sind bislang jedoch wenig fundiert. Ein Blick auf die Fakten (zum Beispiel Statistiken zum Konsum und die Berücksichtigung wissenschaftlicher Arbeiten) ermöglicht, sachbezogener zu diskutieren sowie eine empirisch gestützte Argumentation.“[11]

Der politischen Einordnung konkreter Reformen anhand der Kriterien möchte ich an der Stelle nicht vorweggreifen. Allgemein würde ich jedoch eine Schärfung des politischen Profils der Bewegung erwarten: Auf welche Reformen sollte auch die Tierbefreiungsbewegung hinarbeiten? Welche Reformen sollte die Bewegung unterstützen, sobald sie auf die politische Agenda rutschen? Und welche Reformen aus dem Lager der klassischen Tierschutz-Strömungen würden tatsächlich reale Verbesserung für die gegenwärtig Ausgebeuteten bedeuten und sollten daher zumindest nicht bekämpft werden?

Mit einem klaren politischen Verständnis sollte es dann auch möglich sein, schlagkräftiger in den politischen Diskurs zu intervenieren. Beispielsweise wurde in Deutschland lange um die Rechtmäßigkeit von Kastenständen in der „Schweineproduktion“ gestritten und letztlich im Sommer 2020 beschlossen, den bislang illegalen, aber in der Praxis vom Staat gedeckten Einsatz zu legalisieren und erst nach langen Übergangszeiten zu verbieten. In diesem Möglichkeitsfenster vor dem Beschluss hätte eine schlagkräftige Tierbefreiungsbewegung gemeinsam mit der Tierschutzbewegung und anderen vielleicht daran mitwirken können, dass die weiterhin betroffenen Schweine zumindest dem Kastenstand nicht mehr ausgesetzt wären – und die Schweineindustrie eine empfindliche Niederlage kassiert hätte, wodurch sich unsere Ausgangslage für die Abschaffung jeglicher Schweineausbeutung verbessert hätte.

Fazit: Reform oder Revolution?

Die zentrale Frage ist nicht: Ist etwas reformistisch? Sondern: Kann die Reform dazu beitragen, die Ausgangslage für die Befreiung aller Tiere zu verbessern? Und insbesondere: Kann die Reform das Leiden der Tiere verringern, die heute und weiterhin in den Jahren bis zur Befreiung der Tiere ausgebeutet werden?

Damit spreche ich mich nicht dafür aus, revolutionäre Ziele als unerreichbar abzutun und komplett auf planlose Realpolitik zu setzen. Vielmehr plädiere ich dafür, radikale Reformen und Revolution zu integrieren. Mit diesem Debattenbeitrag möchte ich dazu beitragen, dass wir einen Bewegungsdiskurs darüber führen, wie diese Integration aussehen könnte.

 

Kontakt zum Autor: friedrich_kirsch@riseup.net

 

[1] Vortrag „Exit animal production“ von Friedrich Kirsch auf der International Animal Rights Conference 2020 (05.09.2020).[2] Rosa Luxemburg: Sozialreform oder Revolution?, 1899
[3] Rosa Luxemburg: Karl Marx, Vorwärts (Berlin), Nr. 62 vom 14. März 1903.
[4] Zeitschrift „Luxemburg. Gesellschaftsanalyse und linke Praxis“.
[5] Ulrike Schwerdtner: „Eine andere Welt ist machbar – Sammelrezension zu (realen) Utopien“, Magazin Tierbefreiung Ausgabe 103.
[6] Siehe etwa die Beiträge der Herbstakademie 2013 unter dem Titel „Tierbefreiung & Revolutionäre Realpolitik“, darunter die Podiumsdiskussion “One Struggle – One Fight!? Die Tierbefreiungsbewegung und die antikapitalistische Linke” oder der Vortrag „Antispe-Linke: Heilige Johanna der Schlachthöfe?
[7] https://www.fau.org/gewerkschaft/prinzipien-und-grundlagen-der-fau
[8] https://intersoz.org/unsere-programmatischen-grundueberzeugungen/
[9] Es gibt durchaus auch andere diskutierte Unterscheidungen, im Englischen etwa animal welfarism vs. animal protectionism, oder etwa die im akademischen Tierwohl-Kontext stehende Unterscheidung zwischen pragmatischen bzw. humanistischen Reformist*innen von Richard P. Haynes in Animal Welfare (2008) (Wawrzyniak bezeichnet diese als strategische bzw. suffiziente Reformist*innen).
[10] Daniel Wawrzyniak: Tierwohl und Tierethik – Empirische und moralphilosophische Perspektiven; 2019; s. a. http://tierbefreiungsarchiv.de/fachbibliothek/rezensionen/tierwohl-und-tierethik/
[11] Alina Schmitt: „Wie schädlich ist Tierschutz wirklich? 200 Jahre Tierschutz statistisch betrachtet“, Magazin Tierbefreiung Ausgabe 85.